Herbstlich trübes, kühles und stark windiges Wetter zog am vergangenen Mittwoch (14.Oktober 2020) von Osten auf. Verantwortlich dafür war das Vb-artige Tief GISELA, welches für Wetterkapriolen vor allem in Polen und im Ostseeraum sorgte. An der deutschen und polnischen Ostseeküste führte stürmischer Nordostwind zu einem leichten bis mittleren Hochwasser. Zudem erreichte der Wind in Böen Stärke 10-11 (schwerer Sturm bis orkanartig).
„Gisela“ hat sich ausgehend von einer Tiefdruckzone über Oberitalien entwickelt und zog dann als eigenständige Zyklone unter Verstärkung vom Balkan über die ungarisch-rumänische Grenzregion nordwärts in den Süden von Polen. Fortan bewegte sich Gisela mit der Höhenströmung westwärts und konnte schließlich Mittwoch früh mit einem Kerndruck von etwa 995 hPa über Niederschlesien analysiert werden. Aufgrund der Verlagerung kann von einem sogenannten Vb-Tief die Rede sein (gesprochen: Fünf-b-Tief).
Als Gegenspiel zu GISELA fungierte das Nordmeerhoch OTMAR, welches im Zentrum bis zu 1035 hPa aufwies. Dementsprechend war der Luftdruckgradient über der Ostsee stark ausgeprägt, auch als GISELA im Tagesverlauf des Mittwochs etwas an Intensität einbüßte und begann sich aufzufüllen (Kerndruck steigt, Tief schwächt sich ab).
Wetterlage am 14.10.2020
? Exkurs: Was ist ein Vb-Tief?
Diese Bezeichnung geht auf den deutschen Meteorologen Wilhelm Jacob von Bebber zurück. Er betrachtete die Zugbahnen von Tiefdruckgebieten in der Periode 1876 bis 1880 und entwickelte daraus 1891 eine Karte mit typischen Zugbahnmustern. Dieses System ist auch in Fachkreisen mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten, ein Typ ist aber bis heute in aller Munde: das Vb-Tief. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es üblicherweise von der Adria nordwärts über Österreich und Ungarn nach Tschechien und Polen zieht. Vb-artige Zyklonen sind oft mit markanten Wettererscheinungen verbunden, insbesondere mit kräftigem Dauerregen im Sommer beziehungsweise Schneefall im Winter, Sturm und Hochwasser im Ostseeraum und großen Temperaturunterschieden. So werden auf der Ostseite meist sehr milde, im Sommerhalbjahr sehr warme bis heiße Luftmassen nach Südost- und Osteuropa transportiert, während es an seiner Westseite kalte Luft ansaugt. Der Grund für die teils enormen Niederschlagsmengen an der Nord- und Westflanke von Vb-Tiefs liegt darin begründet, dass diese Tiefs südlich der Alpen meist feuchte Warmluft aus der Mittelmeerregion in ihre Zirkulation einbeziehen und im weiteren Verlauf nach Norden transportieren, wo durch Hebungsvorgänge der in der Luft enthaltene Wasserdampf kondensiert. Typischerweise kommen dann noch Staueffekte an Gebirgen mit hinzu, z.B. beim Oderhochwasser im Jahr 1997 und auch das Augusthochwasser an Elbe und Donau im Jahr 2002 wurde durch ein Vb-Tief verursacht.
Die frontalen ergiebigen Regenfälle des Vb-Tiefs beschäftigten vor allem Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und erst später zum Mittwoch Abend auch Vorpommern. Im Warnfokus stand bei uns in MV aber vor allem der Wind und das Sturmhochwasser an der Ostsee.
Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) reagierte auf die bevorstehende markante Wetterentwicklung am Dienstag früh mit folgender Warnung, welche danach nur noch geringfügig angepasst wurde und im Großen und Ganzen sehr gut dem eingetroffenen Ereignis entspricht.
Quelle: BSH, https://www.bsh.de/DE/THEMEN/Wasserstand_und_Gezeiten/Ostsee/ostsee_node.html;jsessionid=884F50C29FE760CDC5786E6628794BD7.live11291
Schon am Morgen des 14.10. lagen die Pegel teils nahe der Sturmflutmarke von 1 m und auf Rügen und Usedom überspülten die Wellen einen Großteil der Strände. In Greifswald wurde vorsorglich das Sperrwerk geschlossen. Mit weiter zunehmendem Nordostwind, welcher im Mittel BFT 7-8, exponiert auf Usedom und den kleinen Ostseeinseln sogar BFT 9 erreichte, drückte es das Ostseewasser immer mehr an die Ufer.
Es baute sich ein beachtlicher „Fetch“ auf, der Fachausdruck für die Streichlänge des Windes über die Wasseroberfläche (auch Windwirklänge genannt). Diese ist praktisch von der nördlichen Ostsee im Umfeld der schwedischen Insel Gotland bis zur vorpommerschen Küste zu ziehen und beträgt fast 500 km, auf deren Strecke der NO-Wind im Mittel steif bis stürmisch mit BFT 7-8 daher kam. Deshalb sind zyklonale NO-Lagen in Bezug auf Hochwasser fast immer gefährlicher als Sturm- oder Orkantiefs, welche vom Atlantik aus West bis Nordwest über uns hereinbrechen. Der Wind wirkt dann viel kürzer über dem offenen Meer als es bei NO-Sturm der Fall ist.
Die Höchststände wurden am Mittwoch zum Nachmittag und Abend erreicht. Vielerorts verharrten die Werte über mehrere Stunden auf gleichbleibend hohen Niveau zwischen 1 m und 1,40 m. In Wismar erreichte der Pegel maximal 1,42 m über normal und verpasste damit die Einstufung als schwere Sturmflut (ab 1,50m). Ein zweiter Hotspot war der Greifswalder Bodden, die Anströmung aus NO über 24 Stunden mit Mittelwinden von BFT 7 drückte viel Wasser hinein. Greifswald-Wieck erreichte in der Spitze 1,36 m über normal und der Pegel verblieb dort von Mittwoch- bis Donnerstagmorgen fast 24 Stunden über der Sturmflutmindestmarke von 1,00 m.

Webcam Heringsdorf auf Usedom
Der Vergleich: links morgens um 07:45 Uhr, rechts am frühen Nachmittag kurz vor 14 Uhr. Das Wasser arbeitete sich bis zu den Dünen vor.
Eine Erwähnung wert sind auch die signifikanten Wellenhöhen, welche vor Rügen und Usedom über 3 Meter erreichten und über der offenen Ostsee vor der dänischen Insel Bornholm sogar über 5 m betrugen.

In der Nacht zum Donnerstag zog sich die Ostsee nur sehr zögerlich zurück, auch der Nordost war über der Ostsee noch recht stramm unterwegs und flaute erst am Folgetag deutlich spürbar ab. Zum Morgen zeigte sich nun wieder ein langsam breiter werdender Spazierstreifen am Strand von Heringsdorf. Das Meer kam aber erst am Freitag gänzlich zur Ruhe und die Aufräum- und Kontrollarbeiten an den Ufern konnten beginnen. Den Bernsteinsammlern kribbelte es schon in den Fingern. Oststürme sind Garanten für eine reiche Ausbeute, wenn man die besten Küstenabschnitte kennt.

Webcambild vom Strand in Heringsdorf auf Usedom- „Der Morgen danach“ / 15.10. 09:25 Uhr
Somit erfolgt die Einordnung des Ereignisses in die Kategorie „leichte Sturmflut“ (1-1,25 m), mancherorts (z.B. Wismarbucht, Greifswalder Bodden) „mittlere Sturmflut“ (1,25-1,5 m).
Die Modelle für die Wasserstände performten insgesamt gut, unterschätzten aber häufig um 5 bis 10 cm und berechneten einen späteren Höhepunkt des Hochwassers. Hier als Beispiel die Pegel Warnemünde, Rostock-Mühlendamm und Koserow auf Usedom. Die schwarze Linie stellt die realen Messwerte dar, die farbigen Linien zwei Modellprognosen.
Große Schäden an den Küstenschutzanlagen, der küstennahen Infrastruktur und an den Stränden sind meist ausgeblieben. Auf Usedom gab es lokal Landverluste, das aufgepeitschte Meer nagte an den Dünen und Steilküsten und trug Material ab (Beispiel: Zempin). Auch neu aufgespülte Strände mussten leiden und haben direkt wieder viel Sand verloren. In Einzelfällen wurden Strandkörbe zerstört und Boote losgerissen.
Neben der Hochwasserproblematik war auch der Sturm über Land nicht zu verachten. Die ungewöhnliche Ost-Windrichtung brachte auf Rügen und Usedom und auch im ostvorpommerschen Binnenland etliche Bäume zu Fall, welche bei gleichen Windgeschwindigkeiten aus Westen vermutlich mühelos standgehalten hätten. Mancherorts fiel der Strom aus, nachdem bei Anklam ein Baum in eine Stromleitung krachte, teilweise mussten Straßen gesperrt werden. Auch die Tatsache, dass die Vegetation vielerorts noch belaubt ist und damit die Angriffsfläche für den Wind erhöht, verschärfte die Gefahr zusätzlich.

Historische Einordnung
Es war das dritte Ostseesturmhochwasser im Jahr 2020 nach der am 05. Februar (max. 1,21 m in Wismar / 1,12 m Rostock) und am 29. März (max. 1,47 m in Wismar / 1,33 m Rostock / 1,31 m Greifswald). In Warnemünde (1,19 m) und Greifswald (1,36 m) übertrumpften die Wasserstände vom 14.Oktober die eben genannten anderen beiden Ereignisse aus diesem Jahr. Das Wiederkehrintervall für Warnemünde wurde auf 3 Jahre berechnet. Alle 3 Jahre ist somit mit der Schwere einer Sturmflut wie vom 14. Oktober 2020 zu rechnen. Seit der Jahrtausendsturmflut vom November 1872 mit einem Rekordwasserstand von 2,70 m über MWS sind im Rostocker Ostseebad 13 schwere Sturmfluten mit einem maximalen Wasserstand von mind. 1,50 m und 20 Ereignisse der mittleren Kategorie mit mind. 1,25 m aufgetreten. In diesen Kreis drang das aktuell untersuchte Hochwasser mit einem Scheitelpunkt von 1,19 m nicht vor.

Verblüffend ist jedoch die Auswertung getrennt nach Monaten. Dann stehen die 1,19 m für Oktober plötzlich auf Platz 1 der Hitliste seit 1872! Oktober-Hochwasser dieser Intensität sind also eine Seltenheit. Es gibt jedoch noch einige weitere Verzeichnisse mit Maximal-Wasserständen von 1,15-1,18 m aus den Oktobern 1921, 1934, 1935, 2009 und 2017. Dies ist natürlich nur minimal weniger als letzte Woche Mittwoch aus Warnemünde gemeldet wurde. Letztendlich bedeutet es aber, dass in den letzten 150 Jahren nur leichte Sturmfluten (1,00-1,25 m) im Oktober aufgetreten sind. Die heftigsten Ereignisse in der Vergangenheit stammen aus den Monaten November, Dezember und Januar.

Interessant ist auch eine Untersuchung bezüglich der sturmflutauslösenden Wetterlage. Im aktuellen Fall verursachte ein Tief auf Vb-artiger Zugbahn das Hochwasser. Dabei geschieht dies im langjährigen Mittel nur in 15% aller untersuchten Ereignisse. Viel häufiger sind Sturmfluten im Umfeld von Tiefs, welche auf westlicher/nordwestlicher Bahn vom Atlantik oder Nordmeer zu uns gelangen. Letzteres war auch zu den beiden jüngsten schweren Sturmfluten im Januar 2017 und 2019 der Fall. Beide spielten in einer anderen Liga als die diesjährige Oktobersturmflut und wiesen nicht nur in Warnemünde, sondern auch an allen anderen Küstenabschnitten in M-V wesentlich höhere Pegelstände und wohl auch deutlich größere Schäden auf.
Vergleich der höchsten Wasserstände vom 14.10.2020 mit den schweren Januar-Sturmfluten vom 04.01.2017 und 02.01.2019

Es folgt demnächst ein Beitrag zu den schwersten Sturmfluten von Warnemünde mit umfangreichen Statistiken und historischen Bildern!
Schadensdokumentation an Usedoms Stränden auf Twitter:
Klasse Bericht!
Spannend zu lesen, viele Informationen und immer eine große Portion Wetterhistorie. Manchmal könnte man meinen, dort oben an der Küste herrscht so ein komplett anderes Wetter, als hier in der Lausitz. Besonders interessant, dass ein mittleres Sturmflut Ereignis, aus einer anderen Sicht, also aus Sicht des Oktobers, sich ganz anders darstellt.
LikeGefällt 1 Person