Natur & Wetterphänomene Rückblicke und Analysen Serie: Gewitterlagen in MV

Das Derecho vom 10. Juli 2002 – Unwetterfront über MV

Teil 1 einer neuen Serie zu den größten sommerlichen Gewitterlagen in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten 30 Jahren.

Der 10.07.2002 ist als Unwettertag vor allem durch die Auswirkungen in der Bundeshauptstadt Berlin bekannt. Videos vom Breitscheidplatz mit panisch flüchtenden Menschen und wegfliegenden Sonnenschirmen vor Straßencafes und Restaurants gingen um die Welt. Alleine in Berlin und Brandenburg kamen 8 Menschen ums Leben und mehr als 100 wurden verletzt.

Blicken wir auf die Vorgeschichte und den Ablauf des Unwettertages:

Über Westeuropa herrschte ein großes Tiefdruckgebiet vor. Die dazugehörige Kaltfront erreichte Deutschland am 10.07.2002. Währenddessen strömte von Osten eine heiße Luftmasse herein. An der polnischen Grenze wurden bis zu 36°C gemessen. In MV war Ueckermünde mit 34,2°C der Spitzenreiter. In Köln lag der Höchstwert dagegen nur noch bei 19°C. Große thermische Gegensätze bauten sich demnach auf. Die Kaltfront rückte im Tagesverlauf weiter nach Osten in die Heißluft vor. Viel Gewitterenergie wurde in einem Streifen von der Ostsee bis zum Erzgebirge generiert, zudem fiel von den atmosphärischen Zutaten her vor allem die sehr trockene Luft in Bodennähe auf, welche mit der Gewitterfront starke Abwindböen (Downbursts) begünstigte. Ebenfalls ließ sich starke Windscherung analysieren (Wind nahm mit der Höhe zu und änderte Richtung), was für ein gewisses Tornadopotenzial sprach. Beeindruckend auch: Anhand von Daten der Messstationen ließen sich auf wenigen hundert Kilometern innerhalb von Deutschland die größten Luftdruckunterschiede seit Jahrzehnten feststellen.

Animation der Unwetterfront am 10.07.2002, in gelb sind die Blitze zu sehen.

Quelle: https://kachelmannwetter.com/de/gewitter/deutschland/20020710-1700z.html

Gegen 18:30 Uhr hatte sich eine markante Gewitterfront etwa in einer Zone von Hamburg über Magdeburg bis zum Erzgebirge reichend ausgebildet. Sie zog weiter nordostwärts in die Gebiete nordöstlich der Elbe, traf gegen 20 Uhr auf Berlin und etwa zeitgleich im südwestlichen Mecklenburg ein. Circa 23 Uhr waren zuletzt Rügen und Usedom dran. Hier ging vor allem noch die Druckwelle mit dem schweren Sturm durch. Gewitter und starker Regen waren kaum noch dabei.

Bei der Unwetterfront handelte es sich um ein sogenanntes „Derecho“, welches in Deutschland selten auftritt. Eine solche organisierte Gewitterlinie zeichnet sich vorrangig durch folgende drei Charakteristika aus:

  • Länge der Gewitterfront mind. 400 km
  • im gesamten Bereich treten Windböen von >90 km/h (Bft 10-12) auf
  • bleibt über mindestens 6 Stunden bestehen

Alle Kriterien waren am 10. Juli 2002 erfüllt. Lediglich mit der Dauer von 6 Stunden ist es knapp, aber die Gewitterfront hat allgemein auch wissenschaftlich als Derecho Anerkennung gefunden.

Das Derecho überquerte mit Sturm und teils hoher Blitzaktivität auch nahezu ganz Mecklenburg-Vorpommern. Mehrere Wetterstationen meldeten sogar orkanartige Böen (Bft 11). So zum Beispiel Schwerin (112 km/h), Boltenhagen (109 km/h), Putbus und Kap Arkona (107 km/h). Am Leuchtturm Bastorf (LK Rostock) soll sogar eine extreme Orkanböe von 142 km/h registriert worden sein!

Quelle: https://kachelmannwetter.com/de/messwerte/mecklenburg-vorpommern/windboeen-max/20020711-0000z.html

Die Blitze zwischen 21:40 und 22:10 Uhr in MV und angrenzenden Regionen. Mehr als 5.000 wurden in nur 30 Minuten registriert.

Quelle: https://kachelmannwetter.com/de/blitze/mecklenburg-vorpommern/20020710-2010z.html

Die Temperaturgegensätze verschärften sich enorm. Unmittelbar vor der Front hatte um 22 Uhr Swinemünde auf Usedom noch 30°C! Dagegen meldeten die Wetterstationen in Mecklenburg nur noch 13°C! Siehe Messwertekarte:

Quelle: https://kachelmannwetter.com/de/messwerte/mecklenburg-vorpommern/temperatur/20020710-2000z.html

Es kam verbreitet zu umgestürzten Bäumen, zeitweise waren in MV 90.000 Haushalte ohne Strom.

Im Kirchturm des Doms St. Nikolai in Greifswald verursachte ein Blitzschlag ein Feuer. Die Hansestadt Stralsund war am Donnerstagmorgen (11.07.) nicht mit dem Zug zu erreichen, da das Schienennetz blockiert und Oberleitungen zerrissen waren. Umgestürzte Bäume fielen auf Dutzende Autos und auf einen Kindergarten auf der Insel Poel. Herabstürzende Äste verletzten in Mecklenburg und Vorpommern vier Menschen. Blitzschläge und umfallende Stromleitungen entzündeten mehrere kleine Brände.

In Brandenburg konnten auch mehrere Tornados nachgewiesen werden (Unshausen, Zühlsdorf, Wandlitz, Bergfelde, Glienicke/Nordbahn und Bad Saarow), in MV könnten ebenfalls neben den starken Gewitterfallböen vereinzelt Tornados aufgetreten sein. So gibt es mehrere Verdachtsfälle im Südosten. Beispielsweise sei ein möglicher F2-Tornado nahe den Ortschaften Lüttenhagen und Mechow im LK Mecklenburgische Seenplatte genannt.

Dazu ist folgendes bei der „Tornadoliste“ zusammengetragen worden: „Nach Berichten der Strelitzer Zeitung vom 13. und 14. Juli 2002 und nach einer Meldung des Nordkuriers soll dieser mutmaßliche Tornado im Landkreis Mecklenburg-Strelitz erhebliche Schäden angerichtet haben. Die Schneise soll sich vom Waschsee bei Mechow über Köhlereiche bis nahe Lüttenhagen über eine Strecke von mindestens 8 Kilometern erstrecken. Die Analyse von Satellitenbildern ergab eine Schneisenlänge von 6.7 Kilometern und eine Breite von 110 bis 200 Metern.“

Weitere Schäden, welche von einem Tornado herrühren könnten, entstanden bei Triepkendorf in der Feldberger Seenlandschaft, dicht an der Grenze zu Brandenburg. Ein Augenzeuge erinnert sich: „Laut meinen Erinnerungen und einem Radarbild fing das Unwetter ca 21:20 an. Also muss der Tornado, wenn es denn einer war, zwischen 21:30 und 22 Uhr gewütet haben. Da war die stärkste Phase des Unwetters. Die Schneise auf Foto 2 liegt ca 3km hinter der Schneise, die auf Foto 1 und 3 zu sehen ist. Es gibt 3 schneisen, halt stückweise. Aus diesem Grund hab, ich bezüglich der Frage ob es ein Tornado war, meine Zweifel. Die Schneise auf Foto 2 hat ist ungefähr 1 km lang und 200m-300m breit. Die Schneise auf Foto 1 und 3 ist kleiner (600m lang und ca 200m breit), die anderen dürften etwa in der selben Größenordnung sein und liegen dazwischen. Gebäudeschäden gab es nicht, da nur ein Waldstück betroffen war.“

Der Sturm bzw. die vermutlichen Tornados waren klar die markanteste und schadenträchtigste Begleiterscheinung. Daneben kam es auch zu Starkregen (über 50 l/m² in Hagenow) und gebietsweise zu Hagel (1-3 cm Korngröße).

Die 24-stündigen Niederschlagsmengen vom 10.07.2002. Ganz im Osten von MV ging die Druckwelle fast trocken durch.

Quelle: https://kachelmannwetter.com/de/messwerte/mecklenburg-vorpommern/niederschlagssumme/20020711-0600z.html

Teil 2 folgt demnächst 🙂


Quellen:

Kachelmannwetter, https://kachelmannwetter.com/de

Tornadoliste Deutschland, https://tornadoliste.de/2002

Christoph Gatzen (2004): A Derecho in Europe: Berlin, 10 July 2002. Institut für Physik der Atmosphäre, DLR, Oberpfaffenhofen, Germany https://www.spc.noaa.gov/misc/AbtDerechos/papers/Gatzen_2004.pdf

Spiegel.de https://www.spiegel.de/panorama/unwetter-sieben-tote-bei-gewittersturm-a-204699.html

nd-aktuell.de https://www.nd-aktuell.de/artikel/20413.eine-spur-der-verwuestung.html

uwr.de https://uwr.de/de/a/10-juli-2002-unwetterfront-ueber-berlin

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